Der Sturz des Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali begann im inneren Steppenhochland, in Sidi Bouzid, 200 Kilometer südlich von Tunis, 40000 Einwohner. Am 17. Dezember 2010 bot der 26 jährige Obsthändler Mohamed Bouazizi, wie so oft, seine Ware an, allerdings ohne staatliche Genehmigung. Dann wurde er vom Ordnungsamt entdeckt. Faida Hamdi, Ordnungshüterin, beschlagnahmte seine Ware und seine elektronische Waage, das Wichtigste, das er besaß. Daraufhin beschloss er, zur Polizeiwache zu gehen und seine Waage zurückzufordern. Doch dort wie auch bei dem Gouverneur wurde er abgewiesen. Dann unternahm er das Unfassbare: er übergoss sich mit Benzin und steckte sich in Brand. Der Selbstmord erschütterte das Land. Die latente Unzufriedenheit führte zu ersten Übergriffen auf Polizeistationen in den ländlichen Gebieten, später auch in der Hauptstadt. Die Unzufriedenheit der Bürger über das menschenverachtende Vorgehen der Polizei ließ sich nicht mehr kontrollieren und entlud sich in Protesten, die den beginnenden Volksaufstand nährten. Die Revolte wurde politisch, die Demonstrierenden forderten Presse- und Meinungsfreiheit und übten Kritik an Korruption und Zensur. Über die auf Facebook und co. veröffentlichten Handy-Videos erfuhren viele Menschen weitab von Sidi Bouzid von dem Vorfall und wurden Zeuge von den vor Ort stattfindenden Protesten. Im Laufe der Revolution vernetzten sich Demonstranten über soziale Netzwerke und organisierten ihre „Aufstände“. Der Präsident versuchte mit der ihm treu ergebenen Staats- und Sicherheitspolizei die Situation in den Griff zu bekommen; er ließ auch die Internetzugänge sperren. Als dies nicht mehr gelang und sich die Armee und die Gefolgschaft bei der Niederschlagung des Volksaufstandes weigerte, war das Spiel vorbei. Am Abend des 13. Januar hielt Ben Ali eine Fernsehansprache in der er versprach, bei der nächsten Wahl nicht mehr anzutreten, die Lebensmittelpreise zu senken, eine Öffnung des politischen Systems und eine Lockerung der Internetzensur. Am 14.Januar 2011 gab Ministerpräsident Mohamed Ghannouchi um 18:50 Uhr im Staatsfernsehen bekannt, dass Ben Ali vorläufig amtsunfähig sei; da hatte Ben Ali das Land bereits verlassen.
Dem 23 Jahre lang existierenden Regime von Ben Ali gelang es durch gut geplante Politik in sechs bedeutenden Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens Tunesiens bestimmte politische „Utopien” aufzubauen. In dieser Utopie lebte Tunesien fast drei Jahrzehnte. Ihr Umbruch kam für die meisten Experten unerwartet und setzte heftige Diskussionen in Gang. Die hier vorgelegte Ausarbeitung ist ein Versuch, durch demokratietheoretischen Ansatz eine Erklärung dafür zu finden, wie diese Utopie funktionierte und sich für so lange Zeit legitimieren konnte. Um diese Frage zu beantworten, wurde auf Wolfgang Merkels sechs Legitimierungspunkte zurückgegriffen, die die Systemtransformationen am besten erklären.
Tunesien ist nach Libyen, welches seinen Reichtum aus den Ölvorkommen bezog, das wohlhabendeste Land Nordafrikas. Der Staat kann ein steigendes Pro-Kopf-Einkommen vorweisen, das von 1969 (113 Dinar) bis 2002 auf rund 2.950 Dinar anstieg – was immerhin einem Gegenwert von über 2.100 Euro entspricht. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP)tunesien_bip.pdf wird mit 19,9 Milliarden US-$ angegeben(2010). Mit einem Wachstum von 5 % ist die „goldene Schwelle“ erreicht, die das Wachstum der Bevölkerung übersteigt und damit steigenden Wohlstand ermöglicht. Dieses Wirtschaftswachstum wurde vor allem durch Tourismus erreicht, was nicht zuletzt auch auf die politische Stabilität und Kontinuität im Land zurückzuführen ist. Die Weltbank und Internationale Währungsfonds bescheinigten dem Staat, weiterhin auf dem richtigen Wege zu sein. Nach Meinung des „World Economic Forum“ verfügt Tunesien über die wettbewerbsfähigste Volkswirtschaft Afrikas. Tunesien ist eines der stabilsten Länder in der Region. Trotzdem gab es im Wirtschaftsbereich große Problemen. Die Hochschulabsolventen (fast. 50% der gesamten Bevölkerung) waren entweder arbeitslos oder konnten nur in der Landwirtschaft oder im Tourismussektor Arbeit finden. Die Arbeitslosenquote lag offiziell bei 14%, war aber inoffiziell viel höher (über 25%).
Tunesien war unter Ben Ali eine Republik mit einem starken präsidialen System, welches durch eine einzige politische Partei beherrscht wurde. Ein 1988 verabschiedetes Parteigesetz institutionalisierte das Mehrparteiensystem. Faktisch existierte jedoch nur ein Einparteiensystem. Die einzige an der Regierung beteiligte Partei, die konstitutionelle demokratische Versammlung (RCD)tunesien-parteien.pdf, war 25 Jahre lang die einzig zugelassene Partei - in letzter Zeit war sie als „Sozialistische Destourian Partei bekannt“ (PSD) - und beherrschte bis zur Revolution das politisches Leben. Der Präsident wurde auf fünf Jahre gewählt und ernannte einen Premierminister und ein Kabinett. Regionale Gouverneure und lokale Verwalter wurden ebenfalls auch durch die Zentralregierung ernannt. Ben Ali wurde 1989, 1994, 1999, 2004 und 2009 durch Wahlen im Amt bestätigt. Die Politische Macht war unter Ben Ali stark personalisiert und beruhte auf informellen, klientelistischen und (neo)patrimonialen Beziehungen. Deswegen wurden die politischen Entscheidungen weitgehend außerhalb von formalen Institutionen getroffen - oft unter Umgehung formaler Regelungen, in kleinen Zirkeln innerhalb der Staatsführung. Tunesien wurde (bis zum 14. Januar 2011) von zahlreichen Nicht-Regierungsorganisationen und Politikwissenschaftlern als autoritäres Regime bezeichnet. Trotz der an Frankreich angelehnten Staatsorganisation fehlte es an politischer Transparenz; Meinungsfreiheit war nicht garantiert, es herrschte Zensur. Die Justiz wurde häufig von der Regierungspartei instrumentalisiert. Die politische Opposition wurde eingeschüchtert, es gab politische Gefangene, Folter und andere Menschenrechtsverletzungen. Von tunesischer Seite wurde jedoch darauf verwiesen, dass der UN-Menschenrechtsrat die Bemühungen der tunesischen Regierung anerkannt und ihr Fortschritte in den meisten Problemgebieten attestiert hatte.
Offiziell war Tunesien ein freier, unabhängiger und souveräner Staat. Staatsreligion war der Islam, Staatsform die Republik. Alle Bürger hatten nach der Verfassung gleiche Rechte und Pflichten. Die Gedankenfreiheit, das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu veröffentlichen, die Versammlungs- und Vereinsfreiheit waren gewährleistet und wurden im Rahmen des Gesetzes ausgeübt. Der reale rechtsstaatliche Zustand des Landes war jedoch ganz anders. In Tunesien herrschte Presse- und Internetzensur, ausländische Zeitungen wurden nicht ausgeliefert, wenn deren Inhalt von den Behörden nicht freigegeben war, Webseiten könnten jederzeit gesperrt werden. Repressionen gegen Regimegegner, die ständig stattfanden, umfassten wirtschaftliche Schikanen, willkürliche Verhaftungen, Misshandlungen und Folter. Justiz und Legislative waren nicht unabhängig. Menschenrechtsaktivisten und kritische Journalisten wurden inhaftiert. Nach Meinung der westlichen Experten im Tunesien herrschte ein Polizeiregime - ein interessanter Unterschied zu anderen arabischen Ländern, in denen Regierung eher von Militärs unterstützt werden als von der Polizei.)
Die Sozialpolitik von Ben Alis Regime umfasste umfangreiche Sozialhilfe und und an alle Bevölkerungsschichten adressierte Sozialkreditprogramme, sodass 90% der tunesischen Bevölkerung sozialversichert war. Nach offizielle Daten lebten nur 3,8 Prozent der Tunesier unter der Armutsgrenze (1 Dollar pro Tag). Die Arbeitslosenquote lag in den vergangenen Jahren unverändert bei über 14 % (offizielle Angaben). In Tunesien bestand eine gut ausgebildete Mittelschicht. In der Realität hatte sich die politisch-ökonomische Elite völlig von der Gesellschaft abgehoben. Die sozialen Gegensätze wurden immer größer. Der wichtigste Grund dafür war, dass die Zahl der qualifizierten jungen Leute (Hochschulabsolventen) ziemlich groß(ca. 50 %) war, aber der Arbeitsmarkt für sie nur die Möglichkeit bot, in der Landwirtschaft oder im Dienstleistungssektor tätig zu werden. Auch Regierungshilfe wurde nicht adäquat geteilt. Der Norden des Landes, inklusive der Hauptstadt Tunis, erhielt regelmäßig große Infrastrukturhilfen, das Zentrum und der Süden wurden jedoch vernachlässigt. Zuletzt waren besonders die Preissteigerungen, die im Jahre 2010 mehr als 13 Prozent betrugen, ein wesentlicher Auslöser der Unruhen.
Wie in allen arabischen Ländern wurden auch in Tunesien erhebliche Differenzen zwischen islamischer Weltanschauung (alle Muslime sind Brüder) und nationaler Bewegung, die für eine bessere Zukunft für das tunesische Volk, Patriotismus und Entwicklung kämpfte, deutlich. In den Provinzen (im Zentrum und im Süden des Staates) genoss die islamische Ideologie mehr Popularität. Dagegen war in den großen Städten und insbesondere in Tunis die nationale Bewegung deutlich stärker. Selbst die Regierung und auch die Opposition vertraten in dieser Hinsicht keine eindeutige Position. Ben Alis Regierung versuchte eine Balance zwischen diesen zwei Weltanschauungen zu finden und setzte sich daher für einen säkularen Staat mit islamischen Traditionen ein. Die Opposition hingegen umfasste beide Gruppen der Gesellschaft, sowohl “Patrioten” als auch die “islamische Bruderschaft”. Anzumerken ist dabei jedoch auch, dass die Jasminrevolution von unten, also vom Volk, initiiert wurde - ohne Zutun westlicher der arabischer/islamischer Akteure.
Um seine Utopie zu stützen, hatte Ben Ali eine regelrechte Propagandamaschine aufgebaut. Ihre Aufgabe war es, den Präsidentenkult zu propagieren. Ben Ali wurde als Vater seines Volkes bezeichnet. Die Regierung versuchte, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass der Präsident die einzige Person sei, die für eine bessere Zukunft Tunesiens sorgen könne. Da die in Tunesien vorherrschende Religion mit weit über 95% der Islam in seiner sunnitisch-malikischen Ausprägung ist, betonte Ben Alis Regime immer wieder sein religiöses Engagement. Der Staat blieb jedoch trotzdem säkular. Man kann behaupten, dass Ben Alis Regierung über keine bestimmte Ideologie verfügte und sein autoritäres Regime deswegen nicht in der Lage war, die Massen so zu mobilisieren wie andere totalitäre Regime in der Region. Diesen Schluss legt zumindest die Jasminrevolution nahe.
Die wichtigsten “Unterstützer” von Ben Alis Regime waren lange Zeit die tunesischen Medien. Die Massenmedien standen 23 Jahre lang unter Regierungskontrolle, weswegen die Medienlandschaft in Tunesien stark dezimiert war: neben der von der Regierung finanzierten Tageszeitungen „La Presse“ (franz.) und „Essahafa“ (arabisch) gab es ein Dutzend weiterer regierungsnaher Tages- und Wochenzeitungen. In den Schlagzeilen waren immer Ben Ali und Regierungsmitglieder zu finden. Zwei landesweit erscheinende oppositionelle Publikationen - die monatliche „Attariq aljadid“ sowie die Wochenzeitung „Al-Maoukif“ - nahmen zwar einen überraschend unabhängigen Blickwinkel ein. Doch hatten die Zeitungen, die von der Regierung anerkannten politischen Parteien gehörten, mit ihrer geringen Auflage von 3.000 bzw. 5.000 Stück einen sehr geringen Einfluss (verglichen mit den 55.000 Exemplaren von La Presse). Die audiovisuellen Medien wurden ebenfalls vom Staat kontrolliert. Radio (mehrere landesweite Sender) und Fernsehen (Canal 7 und Canal 21) unterstanden der Regierung gleichfalls und sendeten vor allem staatliche Propaganda. Der einzige private TV-Sender war „Hanibal TV“. Doch hier empfing der Zuschauer keine Nachrichten. Mit „Mosaique FM“ existierte ein offiziell unabhängiger Radiosender, der neben Musik auch Nachrichten brachte. Doch er war - auch nach eigenen Angaben - sehr regierungsnah. Aufgrund obengenannter Gründen spielten tunesische Medien im Verlauf der Jasminsrevolution fast keine Rolle.
Da sich die andere Massenmedien in Tunesien fast völlig unter staatlicher Kontrolle befanden, spielte bei der tunesischen Revolution das Internet eine entscheidende Rolle. Dieses war in Tunesien nicht nur für die Verbreitung von Informationen über den begonnenen Aufstand hilfreich, sondern trug ebenfalls zur Verbreitung von Informationen über Demokratie, Freiheit und die Wirtschaft des Westens bei.
Ben Sassi, eine der wichtigsten Personen hinter der tunesischen Revolution, antwortete auf die Frage, die Revolution in Tunesien ohne Facebook in diesem Ausmaß möglich gewesen wäre, mit “Nein”. Auch von anderen Aktivisten der Jasminsrevolution wird immer wieder die bedeutsame Rolle des Internet betont, insbesondere für das Entstehen und „Anwachsen“ der Revolution in Tunesien. Das Internet wurde als wichtigste “Waffe” gegen Ben Alis Regime bezeichnet.
Wird Tunesien jetzt ein demokratischer Staat nach westlichem Vorbild? Sowohl unter westlichen Experten als auch unter den Tunesiern glaubt man, dass die Demokratie in Tunesien in greifbare Nähe gerückt ist.
“Ursprünglich begann die Protestbewegung im Dezember damit, dass das Volk gegen wirtschaftliche Umstände und Arbeitslosigkeit auf die Straße ging. Man hat dann aber deutlich gemerkt, dass sich der Zorn immer mehr gegen die Regierung ausgeweitet hat. Die Forderung nach mehr Demokratie spielte inzwischen eine große Rolle in der Bewegung”- Tunesien-Experte Alexander Knipperts.
Die Aussicht auf Demokratie in Tunesien ist durchaus realistisch: es gibt eine sehr gut ausgebildete und große Mittelschicht und viele Akademiker. Eliten, die durchaus in der Lage sind, für eine vernünftige Politik zu sorgen, sind ebenfalls vorhanden. Tunesische Frauen haben mit Abstand die meisten Rechte in der Region. Das Land hat viele Elemente eines modernen Staates. Natürlich gibt es Probleme mit Islamisten, die gegen die westliche Welt agieren. Deren Zahl ist jedoch sehr gering, genau wie ihr politischer Einfluss. Deswegen kann man durchaus behaupten, dass das Entstehen einer Demokratie in Tunesien keine Illusion ist. Vermutlich wird es mehr als ein oder zwei Jahre dauern. In naher Zukunft ist damit jedoch bestimmt zu rechnen bestimmt, nicht zuletzt, weil unter der Bevölkerung durchaus der Glaube an eine neue liberal-demokratische “Utopie” existiert.
1. Merkel Wolfgang: Systemtransformation: Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, 2., uebergearbeitete und erweiterte auflage, Wiesbaden 2010. Seiten 353-360
2. Neues Deutschland – “Ben Ali ist weg, doch Demokratie noch nicht da- Junge Tunesier arbeiten gemeinsam an einer besseren Zukunft” Von Claudia Altmann, Tunis 04.02.2011: http://www.neues-deutschland.de/artikel/190089.ben-ali-ist-weg-doch-demokratie-noch-nicht-da.html
3. Online Focus – Tunesien, Hintergrund: Wirtschaftliche Lage der Maghreb-Länder, vom 14. Januar 2011: http://www.focus.de/intern/archiv/tunesien-hintergrund-wirtschaftliche-lage-der-maghreb-laender_aid_593872.html
4. www.Spiegel.de - Revolution in Tunesien, ““Demokratie lernt man„, 18.01.2011: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,740084,00.html
5. www.neunetz.com - “Wäre die Revolution in Tunesien so ohne Facebook möglich gewesen?”vom18. Mai 2011:http://www.neunetz.com/2011/05/18/waere-die-revolution-in-tunesien-so-ohne-facebook-moeglich-gewesen-ben-sassi-nein/
6. Die Zeit Online – “Revolution offline Die Umstürze brauchen kein Internet – es kann die Demonstranten sogar gefährden”, Evgeny Morozov, 3.2.2011 - 16:13 Uhr: http://www.zeit.de/2011/06/Internet
7. http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Tunesien/wahl2009.html
8. http://www.lagazettedeberlin.de/5666.html
10. http://www.socialbakers.com/facebook-statistics/tunisia#chart-intervals
Im Folgenden soll die Revolution in Tunesien vor dem Hintergrund der postkolonialen Per-spektive analysiert werden. Das heißt, dass der Fokus darauf liegen soll die Perspektiven der Einheimischen und der – zumindest indirekt – von der Revolution Betroffenen mit der von Außenstehenden zu vergleichen. Um eine Gegenüberstellung zu ermöglichen und um der Quellenlage gerecht zu werden sollen als Außenstehende vor allem westliche Stimmen und als Betroffene vor allem tunesische, aber auch andere arabische Stimmen gelten. Es ist offen-sichtlich, dass auf diese Art und Weise ein Antagonismus von Westen und arabischer Welt aufgebaut wird, der aus postkolonialer Sicht bereits problematisch ist. Er wird dennoch hier vorgenommen, da er durchaus interessante Ergebnisse hervorbringt. In dieser Gegenüberstellung sollen möglichst viele Gesellschaftsbereiche abgedeckt werden. Aus diesem Grund werden Zitate aus Zeitschriften, Zeitungen und privaten Blogs genauso wie wissenschaftliche Stimmen berücksichtigt. Die Analyse ist in drei Teile unterteilt, in denen die westliche sowie arabische Sicht der Vorkommnisse vorgestellt und verglichen werden soll:
In jedem Teil werden jeweils Zitate vorgestellt, die exemplarisch einen Überblick über den Diskurs geben sollen. Dazu sollen diese Stimmen gegenübergestellt und interpretiert werden.
Die Gründe für den Ausbruch der Revolution werden in den westlichen wie in den arabischen Quellen sehr ähnlich eingeschätzt. Es herrscht größtenteils Einigkeit über die Ursachen für die Revolution sowie den finalen Auslöser. Als Ursachen werden in den Quellen drei Faktoren genannt:
Als finaler Auslöser, der den aufgestauten Frust der Bevölkerung zum Ausbruch brachte, wird in ausnahmslos allen Quellen die Selbstentzündung und -verbrennung von Mohammed Bouazizi aus Verzweiflung über seine Situation am 17. Dezember 2010 genannt.
Prof. Juan Cole, Geschichtsprofessor an der Universität von Michigan:
Ursachen: “The demands of the protesters have to do with high food prices and unemployment.”
Auslöser: “The protests late last December were kicked off by the self-immolation of a college graduate who had been reduced to peddling vegetables, and then who lost his license from the government even to do that.”
Korruption: “The perception that the Trabelsis and Ben Alis were “pillaging” the country was fatal to their rule.”
Arbeitslosigkeit und Stagnation: “Many of the unemployed are young college graduates who benefited from Tunisia’s relatively good public schools and free post-secondary education, but now find themselves unable to make a living.”
Schrumpfende Pressefreiheit: “From May 2009 to May 2010, the press faced “one of its worst years since independence.””
Spiegel-Artikel, Interview mit Universitäts-Dozentin Emna Ben Jemma:
“Viele mussten zusehen, wie Leute ohne Qualifikation rasant aufgestiegen sind, während sie selbst hart, aber erfolglos gearbeitet haben. Wer ein Diplom hat, konnte die Früchte seiner Mühe nicht ernten. Man musste einflussreiche Leute kennen, um voranzukommen - die Kor-ruption ist rekordverdächtig in Tunesien.“
Blog Eintrag von einem Ausländer, der in Tunesien lebt:
Arbeitslosigkeit: „Tunis[ia] is a boring country. […] That all changed about a month ago. It all started with unemployment.”
Korruption: “What few good jobs there are seem to go to people with personal connections to the political establishment. As a result many intelligent young Tunisians graduate with no prospects.”
Auslöser: “Many people identified with Mohammed and his suicide set off protests in his na-tive city of Sidi Bouzid.”
Aufsatz von Abd al-Ali Hami ad-Din, Wissenschaftler aus Marokko:
„One of the most significant structural reasons for stoking the revolutionary spirit of the Tu-nisian people was a deterioration of the socio-economic situation, characterized by high levels of unemployment, in particular amongst holders of university degrees, where it reached over 22%, as well as an increased discrepancy between regions and social classes, in which all the country's wealth was concentrated in the hands of a privileged few who were loyal to the president's family.”
Die Forderung nach Demokratie ist in den westlichen wie auch in den arabischen Quellen omnipräsent. Somit ist zumindest festzustellen, dass in dem Wunsch nach einer demokratischen Entwicklung eine Gemeinsamkeit zu sehen ist. Dennoch ist ein Unterschied sehr auffällig: In den westlichen Quellen wird oft nur auf bestimmte Entwicklungen und Faktoren, die aus westlicher Sicht als Indikatoren für oder gegen eine demokratische Entwicklungen sprechen, geschaut. Sie nennen zudem oft explizit Kriterien, die Tunesien erfüllen müsste, um eine im westlichen Sinne voll entwickelte Demokratie zu werden. Im Gegensatz dazu ist festzustellen, dass die arabischen Quellen meist wesentlich ungenauer sind und zudem die dort dargestellten Vorstellungen von Demokratie selten denen der westlichen Quellen entsprechen.
Es wird zwar auch dort oft von Demokratie gesprochen, aber was genau Demokratie für die Tunesier bedeutet bleibt oft unklar. In einigen Quellen wird sogar offen zugegeben, dass die Bevölkerung gar keine klare Vorstellung von Demokratie habe und es werden oft einzelne Alltagsbegebenheiten (wie z.B. öffentliche Äußerung der Meinung) als Inbegriff der Demokratie gesehen. Es ist daher durchaus möglich, dass sich in Tunesien ein ganz anderer Demokratiebegriff entwickelt als westliche Beobachter dies annehmen.
Interessant aus postkolonialer Sicht ist zudem, dass in westlichen Quellen sehr häufig westliche „Tugenden“ und westliche Indikatoren herangezogen werden, um einen positiven Ausblick auf die Demokratieentwicklung zu werfen. Es wird also erstaunlich oft versucht eine positive Parallele zwischen Tunesien und der westlichen Welt zu ziehen, so als wolle man sagen: „Es sind zwar Araber, aber sie sind uns ähnlicher als wir glauben.“ Es scheint also so, als ob Tunesien das arabische Land sei, dass im Allgemeinen als dem Westen am ähnlichsten angesehen wird. Damit wird natürlich implizit wieder der Rest Arabiens als „fremd“ und „anders“ dargestellt, so dass also auch ein latentes „othering“ zu erkennen ist.
Jürgen Theres, Leiter Büros der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung in Tunis im Spiegel:
„Das Land habe alle Chancen, den Übergang zu einer echten Demokratie zu schaffen. ‚Die Menschen haben Disziplin und Bürgersinn, die Verwaltung funktioniert, es gibt einen modernen Sozialstaat, die Strukturen stehen‘, zählt Theres auf. Tunesien sei eine bildungsorientierte Leistungsgesellschaft.“
Prof. Juan Cole, Professor of History at the University of Michigan:
„Well, the elements of democracy are there in Tunisia. 30% of Tunisians go on to some form of higher education […]. There’s a high penetration of the internet, there’s a great deal of communication, there’s a great deal of expertise, the workers are organized, there’s long standing trade unions – all those things that social scientists put their finger on when they think about successful transitions to democracy are there.”
Blog Eintrag von Kacem Jlidi, Sozialarbeiter beim Youth Peer Education Network in Tunisien:
„A complete cut with the past and the start of a new era and that can’t be done with the Con-stitutional Democratic Rally (RCD) still in place. […]We’re demanding the establishment of a democratic state, where all freedoms are granted and protected by the law.”
Blog Eintrag von Ibn Kafka, ein marokkanischer Anwalt und Aktivist:
„The Tunisian people have ousted the dictator, but they haven’t yet got rid of his institutional and political legacy. This is just the beginning, if democracy is to take hold.”
Blog Eintrag von einem Ausländer, der in Tunesien lebt:
„Many of my friends at home have been asking me about the new government, and what I think it's going to look like. Not surprisingly I had no idea, so tonight I asked some of my friends who they thought would do well in the next elections. Interestingly, not a single person had any idea, or even any opinions on any of the political parties.”
Bei diesem Punkt wird deutlich, dass eine zukünftige Orientierung Tunesiens am Westen eher unwahrscheinlich ist, da sich in den tunesischen und arabischen Quellen sehr viele kritische Stimmen finden. So wird der Westen meist für zwei Dinge kritisiert.
Damit sind die oben angesprochenen Parallelen, die viele westliche Quellen gerne zwischen Tunesien und dem Westen ziehen, als problematisch anzusehen, da sie die eventuell falsche Hoffnung schüren könnten, dass Tunesien sich in Zukunft am Westen orientieren könnte. Dies ist aber, besonders wenn man sich Blogeinträge ansieht, kaum zu erwarten. Das Thema wird in westlichen Quellen dagegen kaum thematisiert, vor allem in Hinblick auf die teils offene Ablehnung westlichen Einflusses ist kaum etwas zu finden. Falls man Einschätzungen zum Verhalten des Westens gegenüber Arabien und Tunesien findet, dann eher in leicht ironischer Version wie der unten angeführte Artikel aus dem Spiegel.
Blog Eintrag von Ibn Kafka, ein marokkanischer Anwalt und Aktivist:
„Have you noticed how irrelevant all foreign actors were to this revolution? It took the EU High Representative, Baroness Ashton, three weeks to react – on Jan. 10 – to a popular uprising in a totalitarian state with which the EU has an association agreement, and as for the US, Hillary Clinton pledged neutrality between the parties in presence a few days before the top-pling of Ben Ali – and in order to keep this post free of four-letter words, I will not even mention the French government’s stance. Their support to the revolution would have been appre-ciated, and might possibly have hastened the outcome and/or limited the bloodshed.”
“Once Obama has made sure that the dictator is down, he said that he salutes the „courage“ of the Tunisian people and called for free elections. Wait: does that mean that he now calls for free elections in the other dictatorships that he sponsors, like Morocco, Libya, Egypt, Jordan, Qatar, Bahrain, Saudi Arabia, Iraq, Afghanistan, Kuwait, Oman, UAE, and Yemen? Or he only wants free elections 1) in countries that are not aligned with the US: 2) in dictatorships that are sponsored by the US ONCE THE DICTATOR IS DOWN.”
„Und so weicht die erste Freude über die Erhebung der Massen der Sorge: was wird jetzt aus Tunesien? […] Sind die Demonstranten allesamt wohlerzogene Studentinnen und Studenten […] die demnächst eine Musterdemokratie errichten werden zur Freude der USA und der Europäischen Union? Oder werden dort demnächst bärtige Islamisten ans Ruder kommen […]? Beide Sichtweisen und Erwartungen sind falsch, speisen sich jedoch aus derselben Haltung: der bequemen Ignoranz gegenüber der arabischen Welt, ihrer Bevölkerung, ihrer Mehrheitsreligion und ihren Kulturen gegenüber, gekoppelt mit der Projektion eigener Wünsche und Ängste auf die unverstandene Region.“