Das folgende Kapitel gibt einen kurzen Überblick über die postkoloniale Theorie nach Stuart Hall. Beginnend mit einer kurzen theoretischen Erklärungen wichtiger Konzepte, die für das Verständnis des Postkolonialismus unabdingbar sind, wendet sich dieser Artikel dann der praktische Anwendung auf das Verhältnis zwischen „Westen“ und „Außenwelt“ zu.
Postkoloniale Ansätze gehen davon aus, dass die Bedeutungen nicht naturgegeben sind, sondern vom Menschen konstruiert werden. Dies gilt sowohl für Bedeutungen materieller als auch sozialer Entitäten. Hall stellt dazu fest, dass “(i)t is our use of a pile of bricks and mortar which makes it a ‘house’; and what we feel, think or say about it that makes a ‘house’ a ‘home’. In part, we give things meaning by how we represent them – the words we use about them, the stories we tell about them, the images of them we produce, the emotions we associate with them, the ways we classify and conceptualize them, the values we place on them. Culture, we may say, is involved in all those practices which […] carry meaning and value for us, which need to be meaningfully interpreted by others, or which depend on meaning for their effective operation“ (Hall 2002: 3; Hervorhebung im Original). Man spricht daher auch vom so genannten „konstruktivistischen Ansatz“. Welche vom Menschen geschaffene Bedeutung sich am Ende gegen ihre Bedeutungsalternativen durchsetzt, ist in erster Linie eine Frage der Macht. Machtvolle Sprecherpositionen ermöglichen Festlegungen darüber, was als „wahr“ und was als „unwahr“ gilt, wobei Hall sämtliche Erzählungen als Ideologie bezeichnet. Eine Unterscheidung zwischen Ideologie und Wahrheit nimmt er nicht vor, da jede Wahrheit eine bestimmte Form von Ideologie ist - die Ideologie, die sich gegen andere Ideologien durchsetzen konnte. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einem so genannten „Wahrheitsregime“ - ein Begriff, der auf Michel Foucault zurückgeht. Hinsichtlich seiner Konzentration auf Ideologie unterscheidet sich Hall deutlich von anderen postkolonialen TheoretikerInnen. Andere VertreterInnen postkolonialer Ansätze gebrauchen weniger das Konzept der „Ideologie“, und konzentrieren sich eher auf „Diskurse“. Unter Diskurs versteht man eine Ansammlung von Wissen, sowie Regeln und Praktiken, die dieses Wissen ordnen und miteinander in Beziehung setzen. Ein Diskurs besteht daher aus vielen verschiedenen Bedeutungszuweisungen, so genannten Repräsentationen. Dies geschieht durch zwei verschiedene Systeme: das mentale Repräsentationssystem, in welchem unzählige verschiedene, untereinander in komplexen Beziehungen stehende Konzepte von Dingen, Vorstellungen, Phänomenen, etc. existieren, und das sprachliche Repräsentationssystem, das in Form von Zeichen, Tönen, Bildern, etc. dazu dient, diese Konzepte zu kommunizieren. Die so entstandenen unterschiedlichen Bedeutungen stellen die Basis eines Diskurses dar, der auf Grundlage dieser Repräsentationen gebildet wird. Man spricht in diesem Zusammenhang von der so genannten diskursiven Praxis (vgl. Hall 2002: 15-30). Wesentlich ist dabei, dass Diskurse nicht nur eine Ansammlung von Repräsentationen sind, sondern darüber hinaus Machtkonstellationen (re-)konstituieren, die unter anderem durch diskursive Praktiken und damit durch Wissen erzeugt und reproduziert werden. Insofern ist die Produktion von Bedeutung und Wissen als ein wechselseitig konstitutiver Prozess zu verstehen. Im Zusammenhang mit den postkolonialen Theorien ist insbesondere der Diskurs des „Anderen“ hervorzuheben. Dabei wird die Komplexität der Eigenschaften des „Anderen“ auf ein einfaches, greifbares Ganzes reduziert, das die Essenz des „Anderen“ darstellen soll. Dieser Stereotyp wird wiederum in eine „gute“ (z.B. zivilisiert) und eine „schlechte“ (z.B. unzivilisiert) Hälfte unterteilt („splitting“ bzw. „Dualismus“). Der Andere wird dann als all das definiert, was man selbst nicht ist - als absolut andersartig (Hall 2004: 215-216). Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom sogennanten „Othering“.
Der Westen, ein an sich in jeglicher Hinsicht sehr heterogenes Konzept, das schon lange nicht mehr - wenn überhaupt jemals - (nur) auf geographischen Aspekten beruht, sondern insbesondere bestimmte Werte wie Modernität, Urbanisierung, Säkularität, etc. vertritt, steht im Mittelpunkt der Analyse der Postkolonialisten. Seine Identität formte sich insbesondere auf Basis religiöser und kultureller Unterschiede, die die Europäer im Laufe der Zeit zwischen sich und der Außenwelt entdeckten bzw. imaginierten - eine Identität, die jedoch ohne den Gegensatz zwischen Europa und der Außenwelt nicht denkbar gewesen wäre. Insbesondere nach der Entdeckung der so genannten „Neuen Welt“ führte das zugunsten der europäischen Eroberer ausgerichtete Mächteungleichgewicht dazu, dass sich auch die europäischen Kategorien, Normen und Sichtweisen durchsetzten. Die europäischen Seefahrernationen hatten die in der „Neuen Welt“ ansässigen indigenen Völker entdeckt, erobert, überlistet und durch ihren technischen Vorsprung in ihre Schranken gewiesen. Hall spricht von einer „position of dominant power“ (Hall 2004: 204), die die EuropäerInnen inne hatten. Diese führte dazu, dass europäische Diskurse über die Wirklichkeit, die diese Konzepte bzw. Wahrnehmungsmuster beinhalteten, somit zur „Wahrheit“ erhoben wurden, was aufgrund der Tatsache, dass sich Wahrheit und Macht Hall zufolge wechselseitig bedingen, im Gegenzug wiederum dazu beitrug, dass die Durchsetzung der westlichen Diskurse auch die Macht des Westens über die Außenwelt festigte, selbst wenn diese in sich widersprüchlich waren/sind. Die unterschiedlichen „Wissensquellen“, aus denen sich diese Diskurse speisten, konnten unterschiedlicher jedoch kaum sein. Die einen idealisierten die „Neue Welt“ und erklärten sie zum neuen Paradies. Die anderen wiederum sahen in der Außenwelt eine Ansammlung barbarischer Völker und degradierten sie zu inzestuösen Kannibalen. Allen diesen „Wissensquellen“ war eins gemein: sie führten zu einer starken Stereotypisierung, durch welche sowohl der Westen als auch der Rest der Welt als Kategorien stark homogenisiert wurden, wobei die Unterschiede zwischen beiden wiederum einer starken Heterogenisierung unterzogen wurden. Die so entstanden Diskurse - Stuart Hall spricht in diesem Zusammenhang insbesondere vom „The-West-and-the-Rest-Discourse“ - entwickelten sich mit der Zeit weiter. Sie weisen jedoch auch heute noch vielen Eigenschaften auf, die insbesondere auf die Zeit der Entdeckungen zurückgehen - sowohl in populärwissenschaftlichen Abhandlungen, beispielsweise zur „Überlegenheit“ der „weißen“ gegenüber den „farbigen“ „Rassen“, aber auch bei wichtigen Theoretiker wie Karl Marx oder Max Weber (vgl. Hall 2004: 184-224).
Kritisch hinterfragen könnte man in erster Linie Stuart Halls Umgang mit den Begriffen „Wahrheit“ und „Ideologie“. Insbesondere bei ersterem bedient er sich häufig bei Michel Foucault, ohne dabei jedoch Wahrheit bzw. Ideologie genauer zu untersuchen bzw. zu erläutern, welche Bedeutung dem Begriff der Ideologie in seinem theoretischen Gebäude zukommt und wie sie sinnvoll von anderen Begriffen und Konzepten abgegrenzt werden kann. Seine Ausführungen in dieser Richtung bleiben fragmentarisch. Zudem geht Hall zwar ausführlich auf den „The-West-and-the-Rest-Discourse“ ein und schildert, wie sich europäische Diskurse über und in der „Neuen Welt“ durchgesetzt haben. Er vergisst dabei jedoch zu erwähnen bzw. den Leser darauf hinzuweisen, dass auch diese Sicht der Dinge diskursiv geprägt ist und daher im Prinzip genau so relativ zu betrachten ist wie der „The-West-and-the-Rest-Discourse“ auch.
Hall, Stuart (2002): Cultural Representations and Signifying Practices. London/Thousand Oaks/New Dheli.
——— (2004): “The West and the Rest: Discourse and Power”. In: ders. / David Held/ Don Hubert/ Kenneth Thompson (Hrsg.). Modernity. An Introduction to Modern Societies. Malden/Oxford/Victoria, S. 184-224.